
Die 100-jährige Geschichte des IFA-Industrieparks Nordhausen
Motorenära
Dr.-Ing. habil Werner Steinmetz, Dipl.-Ing.(FH) Albert Heber, Dipl.-Ing.(FH) Wilfried Geiger
1964 wurde das Schlepperwerk Nordhausen der VVB Automobilbau (Vereinigung Volkseigener Betriebe, eine Art Holding) zugeordnet. Bis dato hatte es zur VVB Landmaschinen- und Traktorenbau gehört. Es begann nun parallel zur noch laufenden Traktorenproduktion die Umstrukturierung zum zukünftig größten Dieselmotorenwerk der DDR. „VEB IFA Motorenwerke Nordhausen“, so lautete dann auch die neue Betriebsbezeichnung ab 1. Juli 1965.
Obwohl die Firmennamen seit Werksgründung 1905 mehrfach wechselten von „Gerlach & König“, „Montania“, „Orenstein & Koppel“, „Maschinenbau & Bahnbedarf AG“ bis „VEB IFA Schlepperwerk “, immer war das Werk in der Casseler-Straße 30 c (später Freiherr-vom-Stein-Strasse) ein hochkarätiger Produktions- und Entwicklungs-Standort des Maschinenbaus gewesen. Und bis auf die Kriegsproduktion waren es Finalprodukte wie Lokomotiven und Traktoren, die das Werk verließen. Nun sollten in Nordhausen „nur noch“ Dieselmotoren vom Band laufen! Insbesondere die Mitarbeiter von Forschung- und Entwicklung und vom Kundendienst empfanden diesen Abschied vom Traktor als fachliche Abwertung und Einengung.
Die Umstrukturierung vom Traktoren- zum Motorenwerk hatte auch weitgehende personalpolitische Konsequenzen. 1964 hatte man die „Leitungskader“ vom Generaldirektor der VVB bis zu den F.u.E Abteilungsleitern der IFA vor einen Disziplinarausschuß des Volkswirtschaftsrates (!) gebracht. In einem Schauprozeß nach sowjetischem Muster wurden sie „nieder gemacht“. Wer nach dem Parteiprinzip von Kritik und Selbstkritik nicht bereit war, unterwürfig Asche auf sein Haupt zu streuen, wie der Konstruktionsleiter Heinz Selle, der wurde gnadenlos abgestraft. Dass H. Selle nun auch noch kein SED-Genosse war, passte voll ins Bild der „Inquisitoren“. So erhielt folgerichtig der „Kollege“ Selle dann auch u.a. mit einem „Strengen Verweis“ und Funktionsentzug die höchste Disziplinarstrafe. Ein Ziel dieses Schauprozesses war es, bei den 2200 IFAranern den Eindruck zu vermitteln, dass allein das fachliche Unvermögen der leitenden Ingenieure bei der Neuentwicklung des legendären Traktor Famulus 60 der Grund dafür war, dass ihr traditionsreiches IFA-Schlepperwerk nun zugunsten des Traktorenwerkes Schönebeck seine Produktion einstellen musste.
Die depressive Stimmung wurde noch dadurch verstärkt, dass die VVB Automobilbau das IFA Werk Nordhausen dazu „verdonnerte“ die Produktion der veralteten Motoren desTyps EM 4 für den LKW H 3A bzw S 4000 vom VEB Sachsenring Zwickau zu übernehmen (Bild 1). Fast 500 Facharbeiter und Ingenieure aus Nordhausen wurden dazu mehrere Monate in Zwickau angelernt. Am 27.2.65 wurde der erste EM 4-Motor in Nordhausen montiert, am 1. November 1965 verließ der letzte Traktor, ein RT 325, die Montagestraße.
In Ludwigsfelde war auf Ministerratsbeschluß vom 21.12.62 inzwischen eine Produktionsstätte der Superlative für den in Werdau entwickelten 5t-LKW vom Typ W50 errichtet worden. Noch Im Sommer 1965 sollte in dem neuen „VEB IFA Automobilwerke Ludwigsfelde“ der erste W 50 vom Band rollen. Man brauchte also dringend einen Dieselmotor mit einer deutlich höheren Leistung als sie der EM 4 mit seinen 90 PS erreichte. Da eine Neuentwicklung in so kurzer Zeit nicht möglich war, wurde der „gute alte“ EM 4 von 115 auf 120 mm Zylinderdurchmesser „aufgebohrt“ und so die Motorleistung auf 110 PS erhöht. Diese Weiterentwicklung geschah im Wesentlichen in Regie vom Dieselmotorenwerk Schönebeck und Sachsenring Zwickau.

Bild 2: 125- PS Motor 4 VD 14,5/12 1 noch mit Rohrbündel-Ölkühler vor der Ölwanne (W50 Ausführung)
Noch 1965 ging diese „Interimsvariante“ 4 KVD 14,5/12 gegen den Widerstand der Nordhäuser Ingenieure im IFA MN in Produktion, so dass tatsächlich am 18. Juli der erste LKW (*) des Typs IFA W 50 das Montageband in Ludwigsfelde verlassen konnte. Dieses Ereignis war für die DDR so bedeutsam, dass nun das Dorf
Ludwigsfelde zur 629. Stadt der DDR „geadelt“ wurde.
Der 110 PS - Kompromißmotor erwies sich jedoch als eine einzige Fehlentwicklung. Obwohl von 1965 bis 1967 ca 3000 Motoren dieses Typs in die Ludwigsfelder LKW`s eingebaut wurden, ist heute leider kein einziges Exemplar mehr für unser neues IFA-Museum auf zu treiben. (Dabei wäre es für zukünftige Ingenieure sehr aufschlussreich zu sehen, wohin einseitiges und stures Beharren auf überkommenen Theorien führen kann.) Sämtliche W 50 wurden später von den Betreibern mit dem zuverlässigen und langlebigen 125 PS Motor nachgerüstet.
Bei der personellen Neubesetzung wichtiger Leitungspositionen 1965 war ohne Zweifel Ing. Günter Caspari als neuer Chefkonstrukteur, bisher tätig im Dieselmotorenwerk Schönebeck, ein Glücksfall für das Werk und die 150 F.u.E Mitarbeiter. Unter seiner Leitung wurde in kürzester Zeit aus dem alten Zwickauer EM 4 mit unwirtschaftlichem Wirbelkammer-Brennverfahren ein moderner 125 PS-Motor mit wirtschaftlicher Direkteinspritzung entwickelt. Damit konnte eine volkswirtschaftlich gewichtige Kraftstoffeinsparung von ca. 15 Prozent erreicht werden. Die Typenbezeichnung des neuen Motors: 4 VD 14,5/12-1 („-1“ bezeichnet die 1. Entwicklungsstufe). Bis auf die Zylinderzahl 4 und den Kolbenhub 145 mm blieb nach der Modernisierung nichts mehr vom EM 4 übrig (Bild 2). Einziger Wehrmutstropfen: Ein wettbewerbsfähiges Verbrennungsverfahren mit Dirkteinspritzung stand in der DDR nicht zur Verfügung. So musste mit der MAN in Nürnberg ein Lizenzvertrag zur Nutzung des patentierten so genannten M-Verfahrens abgeschlossen werden. Für jeden in Nordhausen gebauten Motor mussten 50 D-Mark Lizenzgebühren nach Nürnberg überwiesen werden. Das hochgerechnet auf rund 40.000 Motoren im Jahr bzw 970.000 Motoren in 23 Jahren!!
1967 begann die Serienproduktion dieses meistgebauten Dieselmotors der DDR. Der 4 VD 14,5/12 war dann über mehr als 2 Jahrzehnte Antriebsaggregat für alle 60 Varianten des LKW W50, die Traktoren ZT 300 und 303, den Mähdrescher E 512, den Autodrehkran ADK 63, den Motorgrader SHM 4-120 (Bild 3), den russischen SIL-LKW und das Diesel - Notstromaggregat 6-2320, um nur die wichtigsten Anwender zu nennen.
Dass das IFA Automobilwerk Ludwigsfelde seine W 50 in 40 Länder der Welt exportierte, ist bekannt. Kaum bekannt ist jedoch, dass im furchtbaren Irak-Iran-Krieg 1980 bis 1988 die DDR beide Kriegsparteien mit W50 aus Ludwigsfelde belieferte. Bei der Verhandlung der Lieferverträge in Ludwigsfelde gaben sich die Delegationen der beiden Feindesländer die Klinke in die Hand. Der Iran-W50 unterschied sich vom Irak-W50 nur durch die Pritsche. Der eine mit Stahl- der andere mit Holzpritsche. Makabere Ironie: Ein vom Feind erbeutetes Fahrzeug konnte sofort in der eigenen Armee weiter genutzt werden. Stolz präsentierte man in Ludwigsfelde nun eine Exportrate des W50 von 70 % und dabei eine Rekord-Devisenrentabilität (Verhältnis Valuta-Mark-Erlös / DDR-MarkKosten). Der Krieg macht´s möglich. Pecunia non olet, auch nicht im Sozialismus!
Für diesen Kriegseinsatz war der Nordhäuser Motor im Irak und in Mexiko unter tropischen Bedingungen, bei Sandstürmen in der Wüste sowie auf steilen Gebirgsfahrten bis zu Höhenlagen über 2000 m getestet worden (Bild 4). Diese NVA-Variante des Motors 4 VD 14,5/12-2 war übrigens auch kaltstart- und betriebsfähig bis zu Temperaturen von -40°C. Der verantwortliche Konstrukteur, unser langjähriger Kollege Karl Haake musste den Nachweis dieser Extremwerte nicht nur in der Kältekammer sondern auch im praktischen Einsatz im hohen Norden Sibiriens erbringen.

Bild 5: 125- PS Motor 4 VD 14,5/12 2 mit neuem Evolventen-Ölkühler in der Ölwanne (SIL Ausführung)
Im Oktober 1973 geht die zweite Entwicklungsstufe des Motors mit der Typenbezeichnung 4 VD 14,5/12-2 in Serie. Auffälligste Änderung gegenüber „-1“ ist der Ersatz des korrosionsanfälligen und kostenaufwändigen Rohrbündel-Ölkühlers durch den patentierten Evolventen-Wärmetauscher EWT in der Ölwanne (Bild 5). Übrigens: Dieser EWT (der Autor ist Patentinhaber) hat es geschafft, die Wende und die IFA zu überleben. Diese IFA-Innovation wird in der Bremer Firma ETB als Evolventen-Abgaswärmetauscher für Blockheizkraftwerke weiter produziert. Aus dem kleinen Ölkühler mit 275 mm Durchmesser aus Alu-Guß wurde ein Abgastauscher mit einem Durchmesser von 1.100 mm in modernster V4A-Blechkonstruktion. Sogar in der deutschen Forschungsstation Neumeyer III in der Antarktis ist ein solcher Evolventen-Abgas-Wärmetauscher im dortigen Diesel-Heizkraftwerk im Einsatz.
Für die Großserienproduktion des 4 VD 14,5/12 war Ende der 60-er Jahre das bisher größte Investitionsprogramm in der Geschichte des IFA-Werkes einschließlich seiner Betriebsteile Sondershausen und Haynrode über die Bühne gegangen. Die IFA -Ingenieure in Planung, Fertigungstechnik und Verfahrenstechnik (nach DDR-Terminologie bezeichnete man die Ingenieure in diesen Bereichen als „Technologen“) hatten hervorragendes geleistet. In der neu erbauten Halle 42 sind nun vollautomatische Taktstraßen für Kurbelgehäuse und Zylinderköpfe und Automaten für Pleuelstange und Kurbelwelle in Betrieb. Sie sind durch rationelle Transporteinrichtungen mit einander verbunden und sichern einen kontinuierlichen Fertigungsfluß von der Vorfertigung über die Montage bis zum Prüfstand. Der Versand der Motoren zu den Hauptabnehmern erfolgt in 20 Fuß Containern per Schiene.
Die 24 neuen Motorenprüfstände sind vom feinsten: Jede Prüfstandsbox ist schalldicht. Der zu prüfende Motor ist auf einem komfortablen Schwingungsfundament vibrationsfrei montiert. Der Prüfstandsmonteur sitzt in einem gesonderten Raum am Bedienpult (Bild 6) ohne Beeinträchtigung durch Vibrationen oder Schallimmission. Waren die alten Motorenprüfstände der Traktorenära noch mit den ungenauen Wasserwirbelbremsen ausgestattet, so wird jetzt auf allen 24 neuen Prüfständen die Motorleistung mit den präzisen Gleichstrom - Pendelgeneratoren aus dem VEB Elbtalwerk Heidenau gemessen. Energetisch weitsichtig, sind sogar teure so genannte Leonardsätze installiert, mit denen eine elektrische Rückspeisung der Motorleistung ins Stromnetz möglich ist. Weil der Strom in der DDR jedoch so unvernünftig billig war, machte man von dieser ökologisch interessanten Betriebsweise kaum Gebrauch.
Erstaunlich aus späterer Sicht: Bei der Wahl der Fertigungsausrüstung für das Vorhaben 4 VD 14,5/12 wurde auf den technischen Höchststand orientiert. Was nicht in der DDR oder im SW (Sozialistisches Wirtschaftssystem) verfügbar war, wurde im Westen (NSW) gekauft. So z.B. die Zylinderkopftaktstraße bei Renault in Frankreich. Beim Aufbau der Taktstraße waren französische Monteure über ein halbes Jahr tagsüber in der Halle 42 und zu später Stunde jeweils an vergnüglicheren Stätten rund um Nordhausen tätig. Vorzugsgaststätte war das Gasthaus zur Linde in Leimbach. Der Wirt „Gerard“ hatte sich sogar auf die französische Küche eingestellt.
Die Mitarbeiterzahl im Werk stieg von 2.220 im Jahr 1965 auf 3.167 im Jahr 1975. Ein Jahr vor der Wende waren es 4.260 Menschen, die im VEB IFA MN Lohn und Brot fanden. Die sog. Industrielle Warenproduktion (IWP) belief sich auf mehr als eine Milliarde Ost-Mark! Der höchste Jahresausstoß wurde mit 57.125 Motoren 1984 erreicht. Im Vergleich zu heutigen Motorenwerken ähnlicher Größe war der Anteil der Eigenfertigung in der IFA hoch. Sämtliche Großbauteile wie Kurbelgehäuse, Zylinderblock, Zylinderkopf und Kurbelwelle wurden „vor Ort“ gefertigt. Ja selbst die Ventilproduktion erfolgte in den IFA - Betriebsteilen Apolda, Hainrode und später im BT „Apparatebau“, heute EATON.
Neben Motoren stellte das Werk sog. „Konsumgüter“ her, die nicht selten Anlaß zum Schmunzeln gaben. Fünf Prozent der IWP mussten laut staatlicher Auflage Konsumgüterproduktion sein. Kuriose Dinge, wie Grabvasen und Kippanlagen für PKW entstanden, aber auch echte Bedarfsgüter wie der Handwagen „Rollfix“ und nicht zu vergessen: mehr als 200.000 Fahrräder mit der Bezeichnung „IFA-Touring“.
Und welchen ideologischen Ballast hatte ein DDR- Großbetrieb wie die IFA noch zusätzlich zu schultern: Parteileitung (BPO), Gewerkschaftsleitung (BGL), FDJ, Stasibeauftragte (offizielle und IM), Kampfgruppe, Zivilverteidigung und GST. Alle hatten sie unter dem Dach der IFA ihre Büros, Waffenkammern (!) etc. und einen gut bezahlten, krisensicheren „Arbeitsplatz“.
Vorbildlich war die Betriebsberufsschule der IFA. So wurden z.B. 1977 460 Lehrlinge, die auch aus anderen Nordhäuser Betrieben kamen, zum Facharbeiter ohne und mit Abitur ausgebildet. 1065 Schüler aus den Klassen 7 bis 12 kamen wöchentlich einmal ins Werk zum so genannten polytechnischen Unterricht. In der Erwachsenenqualifizierung wurden im Abendstudium besonders fähige Facharbeiter zu Meistern und Ingenieuren weitergebildet.
Während 1967 die Ingenieure der Technologie (TV) vollauf mit dem Beginn der Großserienfertigung des 4-Zylindermotors 4 VD 14,5/12 beschäftigt waren, lief in der Hauptabteilung TK (Forschung und Entwicklung) schon die Entwicklung des Nachfolgemotors 6 VD 12/11 auf Hochtouren. Es war geplant, den 4 VD 14,5/12 4 Jahre lang zu bauen und dann durch einen neuen leistungsstärkeren 6-Zylindermotor schrittweise zu ersetzen. Dass dann aus diesen 4 Jahren Produktionsdauer des guten alten „14,5-er“ sage und schreibe 23 Jahre wurden, hätte auch der größte Pessimist damals nicht ahnen können.
Der Nachfolgemotor 6 VD 12/11, als 6-Zylindermotor in stehender (SRF) und geneigter Ausführung (GRF) sollte mit 150 PS im W50-Nachfolge LKW Verwendung finden. Den Ludwigsfelder Forderungen entsprechend war der 6 VD 12/11 kurzhubiger und leichter als der 4 VD 14,5/12 und mit 3000 U/min ein ausgesprochener Schnellläufer. Es war eine vollständige Baureihe VD 12/11 vom 3- bis zum 6-Zylindermotor konzipiert. 1967 liefen bereits die Prototypen auf den Prüfständen. Einzigartig an der Baureihe 12/11: Es war von der Ölwanne bis zum Zylinderkopf ein völlig neues Motorenkonzept. Eine Gemeinschafts-entwicklung von IFA MN, WTZ K-M-Stadt, Dieselmotorenwerk Schönebeck, Robur Zittau. 1969 war die Entwicklung des 6VD 12/11 (Bild 7) soweit abgeschlossen, dass wir mit einem Funktions-muster in einem schmucken Reisebus (Bild 8) der Privatfirma (!) Messerschmidt aus Zörbig ins polnische Riesengebirge nach Karpac fahren konnten. Das gesamte IFA MN - Entwicklungskollektiv war mit Ehepartnern von Herrn Messerschmidt gratis zu dieser mehrtägigen herrlichen Fahrt eingeladen. Für die meisten von uns die erste Auslandsreise! Überall erregte der Bus mit seinem als Unterflurkonzept eingebauten Motor 6VD 12/11 GRF („G“ für geneigte Ausführung) ob seiner Laufkultur große Aufmerksamkeit. Trauriges Ende solcher privaten Initiativen von Herrn Messerschmidt: Wegen angeblicher „Wirtschaftsvergehen“ musste er eine mehrjährige Haftstrafe im Gefängnis verbüßen, wo er auch verstarb.
Kurz vor Abschluß der Entwicklung des 6 VD 12/11 kam von Ludwigsfelde die Forderung nach höherer Motorleistung für den zukünftigen 6,5 t -LKW. So wurde 1971 der 6VD 12/11 unter weitgehendem Beibehalt des Kurbelgehäuses zum 6VD 12,5/12 „aufgebohrt“ und damit die Leistung auf 180 PS gesteigert. Der damalige Betriebsdirektor Robert Sternberger setzte durch, dass als Motorbezeichnung nicht die TGL-gerechte Motorformel 6VD 12,5/12 Anwendung fand, sondern die werbewirksame Motorbezeichnung „MN106“. Ein Hinweis, dass der MN 106 eine eigenständige Entwicklung des MN war.
Vom Ministerrat der DDR stand nun die Forderung, für den neuen Motor ein eigenes, lizenzfreies Verbrennungsverfahren zu entwickeln, um von den hohen Devisenzahlungen an die MAN frei zu kommen. In Zusammenarbeit mit dem WTZ (Wissenschaftlich-Technisches Zentrum) Automobilbau in Karl-Marx-Stadt (heutiges Chemnitz) wurde das so genannte Hyperboloid-Verbrennungsverfahren, kurz H-Verfahren, entwickelt. Für das H-Verfahren wurden in- und ausländische Patente erteilt. Der Autor und sein Miterfinder Hans Gärtner vom WTZ erhielten 1976 dafür den Orden Banner der Arbeit, eine Auszeichnung, die ungeachtet ihrer martialischen Wortwahl eine rein fachliche Anerkennung war. Während die ersten Funktionsmuster MN 106 noch mit dem MAN-M-Verfahren liefen, wurden alle von 1973 bis 1979 gebauten 240 Fertigungsmuster mit dem neuen lizenzfreien H-Verfahren ausgerüstet. Die Erprobung dieser Fertigungsmuster erfolgte in Ikarus-Bussen, in Kalischächten als Ersatz für DEUTZ- und Volvo-Motoren und in den Prototypen des W50-Nachfolge-LKW. Übrigens: Auch das Dieselmotorenwerk Schönebeck übernahm für den 8-Zylindermotor 8 VD 14,5/12,5, Antriebsaggregat für den größten DDR-Mähdrescher E 516, das H-Verfahren aus Nordhausen.
Mit dem 8. Parteitag der SED im Juni 1971 endete die Ulbricht- und begann die Honecker-Ära. Für weite Bereiche der Industrie und vor allem für den gesamten Automobilbau begann damit die Stagnation. Die Investitionsmittel für die Produktion eines neuen LKW und damit auch eines neuen Dieselmotors in Nordhausen rückten in immer weitere Ferne. Jetzt galt es den neuen 180- PS-Sechszylindermotor ständig auf dem neuesten technischen Stand der Technik und der sich verändernden Forderungen der Finalproduzenten zu halten.
Unter den F.u.E. Ingenieuren bildeten sich Mitte der 70-er Jahre 2 Fraktionen heraus: die Befürworter des Kurzhubers und die Verfechter des Langhubers. Der Autor gehörte zu den letzteren. Er und sein Kollege H-J. Kampmann hatten 1973 eine Dissertation über den Einfluß des Hub/Bohrung-Verhältnisses bei Fahrzeugdieselmotoren verteidigt. Das Ergebnis: Der Langhuber, obgleich schwerer und größer, ist der wirtschaftlichere Motor. D.h. der Motor MN106 ist zu kurzhubig für niedrigsten Kraftstoffverbrauch! Nach längerer Auseinander-setzung wurde dann 1980 der Hub des MN 106 von 125 auf 135 mm verlängert. Die Motorenreihe VD13,5/12 war geboren.
Inzwischen war 1978 die VVB Automobilbau in 2 „Kombinate“ aufgespaltet worden. Das Nordhäuser Werk gehörte nun zum IFA Kombinat Nutzfahrzeuge in Ludwigsfelde. Wieder begann die frustrierende Ungewissheit, ob es für den neuen 13,5-er Motor endlich eine Perspektive zur Serienproduktion gibt. Da kam 1983 unerwartet Bewegung in das große Investvorhaben „NKW L60“. Ausgerechnet der von der DDR best gehasste CSU-Politiker Franz-Josef Strauß verhandelte im Juli 1983 mit Honecker über einen Milliarden-Kredit westdeutscher Banken für die marode DDR-Wirtschaft. Strauß machte jedoch für den Kredit den Abbau der Minen und Selbstschußanlagen an der innerdeutschen Grenze zur Bedingung.
Mit diesem Strauß-Kredit fiel der Startschuß für das Milliarden schwere Investvorhaben L60 in Ludwigsfelde und damit auch für das Projekt 6VD 13,5/12 in Nordhausen. 1987 wurde der Produktionsanlauf gefeiert. Immerhin verließen bis zur Wende noch 22.918 Motoren die Montagestraße. Besondere konstruktive Merkmale dieses modernen und optisch schönen 180 PS Sechzylinder-Reihenmotors sind: Einzelzylinderköpfe, Voraussetzung für Baureihenprinzip; Pat. Neuheit des Sphärogußkolben mit Hyperboloid-Brennraum; Evolventen-Wärmetauscher in der Ölwanne mit eingegossenen Kühlwasserleitungen (Bild 9). Produktionsstätte für die neue Motorbaureihe VD 13,5/12 ist die imposante Halle 300 am Hüpedenweg.
Die Planungen für die Halle 300 hatten bereits 1977 begonnen. Die Grundsteinlegung war am 22 September 1978 erfolgt.1981 wurde der Gebäudekomplex Halle 300 fertiggestellt. Nochmals vergingen 2 Jahre bis zum bereits erwähnten spektakulären Milliardenkredit und damit zur Erteilung der Aufträge an die Lieferfirmen für die technologische Ausrüstung. Es folgte die komplexe Rekonstruktion des gesamten Motorenwerkes für den Serienanlauf der neuen Motorenbaureihe. Modernste Fertigungseinrichtungen und Taktstraßen wurden in Halle 300 aufgebaut. Die wesentlichsten vollautomatischen Fertigungslinien sind Kurbelwellen-, Nockenwellen-, und die Pleuelstangenstraße (Bild 10), die Zahnradfertigung sowie ein Feinmesszentrum der internationalen Spitzenklasse (Bild 11).
Sowohl die Motorenbaureihe 12,5/12 als auch 13,5/12 war bereits für eine Leistungserhöhung durch Abgasturboaufladung konzipiert. Auf dem Prüfstand der Forschungsabteilung lief parallel zur Entwicklung des Saugmotors auch die jeweilige Turboversion einschließlich Ladeluftkühlung. Leider war ein 1981 mit der Fa. KKK in Frankenthal bereits verhandelter Lizenzvertrag zur zukünftigen Produktion von Abgasturboladern in der DDR geplatzt - aus Devisenmangel! Damit mußte die Serieneinführung eines turboaufgeladenen 6VD 13,5/12 bis auf weiteres ad acta gelegt werden. Erst 1990 in der neuen IFA Motorenwerke GmbH wurde die Turboversion 6 VD 13,5/11,8 Wirklichkeit. Mit 272 PS war dieser leistungsstärkste Motor der 13,5-er Baureihe international voll wettbewerbsfähig. Nur 50 Turbo-Sechzylindermotoren wurden ab 1990 in den IFA-Nachfolgefirmen „IFA Motorenwerke GmbH Nordhausen“ und „Thüringer Motorenwerke GmbH“ (TMW) noch gebaut.
Im August 1990 kam das „Aus“ für den Mercedes-IFA-NKW L60 1318. Daimler Benz hatte plötzlich seine Zusage, das Ludwigsfelder NKW-Werk und das Nordhäuser Motorenwerk zu übernehmen, zurückgezogen. Damit war der größte Auftraggeber für die IFA weg gebrochen. Es begann ein Sterben auf Raten. 1993 hatte die TMW sage und schreibe nur noch 110 Mitarbeiter. Neunmal kluge Berater, auch aus der Politik wie der Staatssekretär Dr. Günther Krause, hatten dem Werk diverse Schlankheitskuren verordnet und die Umprofilierung auf „grüne“ Umwelttechnik vornehmlich Pflanzenölmotoren empfohlen. Die große Rapsölzeit sollte anbrechen.
Heute wird immer wieder die Frage gestellt: „War der Untergang der IFA unvermeidlich?“ Natürlich ist man im Nachhinein immer klüger. Trotzdem drängen sich einige Fehler und Versäumnisse geradezu auf:
- Sich auf die Hilfe „von oben“ wie Daimler und Dr. Krause & Co zu verlassen war naiv und leichtfertig. Konnte man wirklich annehmen, dass Daimler in seinen südwestdeutschen Motorenwerken Tausende Mitarbeiter entlässt, um mit der IFA das größte Dieselmotorenwerk in Ostdeutschland zu übernehmen?
- So wie an anderen ostdeutschen Industriestandorten mit Erfolg geschehen, hätte man sofort Kontakte mit den wichtigsten „Global Playern“ im Bereich der Nutzfahrzeug-Motoren aufnehmen müssen. Nur mit diesen großen internationalen Wettbewerbern hätte man Firmen wie Daimler und MAN „Beine machen“ können.
- In Nordhausen fehlten in Kommunalpolitik und Wirtschaft Persönlichkeiten, die über entsprechende Verbindungen (heute „Connections“) verfügten. Wichtige Fachleute in der IFA, denen man die erforderlichen Initiativen zugetraut hätte, hatten aus verschiedenen Gründen schon 1990 die IFA verlassen.
- Ein Fehler in der großen Politik wirkte sich fatal auf die Deindustrialisierung in Ostdeutschland aus: Mit großzügigen Abfindungen und Vorruhestandsregelungen wurde ein Großteil der Ingenieurgeneration eines ganzen Jahrzehnts quasi in den Ruhestand gelockt. Man traute ihnen und manchmal sie sich selbst nicht mehr den Neueinstieg in die Marktwirtschaft zu. Ein folgenreicher Irrtum! Wie sich herausstellte waren die Ingenieure und Facharbeiter aus der DDR ihren Westkollegen in Ausbildung und Motivation mindestens ebenbürtig. Was hätten die so unnötig durch die Sozialsysteme alimentierten Vorruheständler an Ingenieurwissen einbringen und neue Arbeitsplätze schaffen können! Auch auf die Gesundheit der Betreffenden hat sich der plötzliche Verlust an Verantwortung nicht immer positiv ausgewirkt.
Quellen: IFA-Archiv; Stadtarchiv; Zeitschrift Oldtimer Traktor 11-12/2008, Seite 34-37
Fotos: Wilfried Geiger